Wenn du von "Meisterstück" sprichst, schätze ich mal, dass dir dieser Film von den bisherigen dreien wohl am Besten gefallen hat, oder?
Für mich ist "Das Fenster zum Hof" wie ein Gemischtwarenladen, in dem alles drin ist: Krimi, Liebesfilm, Thriller und vor allem auch Sozialdrama.
Und das wird wirklich auf geniale Weise miteinander verwoben:
Aus Langeweile baut sich nach und nach Spannung auf, das Misstrauen des Fotografen Jeffries gegenüber dem merkwürdigen Verhalten seines Nachbarn Thorwald wird Stück für Stück gesteigert, bis es am Ende des Films zur Konfrontation zwischen beiden kommt. Das ist in der Dosierung wirklich großartig.
Denn zwischendurch erblickt Jeffries durch seinen "Spanner-Blick" durch's Fernglas auch noch andere Schicksale, am intensivsten sicher das von "Miss Einsames Herz", die sich in ihrer Einsamkeit auch schon mal mit einer imaginären Person unterhält, bevor sie letztlich dann doch verzweifelt merkt, dass auf dem Stuhl neben ihr am Tisch gar keiner sitzt.
Diese Darstellung von Einsamkeit hat mich besonders beeindruckt.
Jede Wohnung, die Jeffries beobachtet, ist quasi eine kleine Kinoleinwand, und die "heile Welt" ist offenbar nirgends anzutreffen.
Dazu hat Jeffries mit seiner eigenen Beziehung auch noch genug zu tun.
Soll er frei und unabhängig bleiben oder doch die schöne Lisa heiraten?
Grace Kelly spielt die Geliebte so, dass man sie einfach mögen muss:
Sehr sympathisch, für ihren Status auch nur wenig zickig und am Ende sogar todesmutig.
Als sie in Thorwald's Wohnung einsteigt, glaube ich ihr, dass sie darin irgendwie einen "Kick" findet, so wie sich andere heutzutage vielleicht dem "Bungee-Jumping" hingeben.
Übrigens, "Freak", du hattest gefragt, warum Lisa Thorwald nicht von der Polizei verhaften lässt.
Ich denke, dass zu dem Zeitpunkt die Verdächtigungen gegen Thorwald ja noch nicht sehr beweiskräftig waren. Und da Lisa in Thorwald's Wohnung eingestiegen ist, ist ja zunächst mal Lisa in Erklärungsnot.
Dadurch muss ja Lisa erstmal mit zur Polizeiwache kommen, und so ist der Weg frei für den "Showdown" zwischen Jeffries und Thorwald.
Ich hoffe, dass ich das so richtig in Erinnerung habe.
Ansonsten muss ich noch mal in den Film reingucken, weil ich ihn jetzt auch länger nicht gesehen habe.
Beeindruckend fand ich aber schon immer die Eröffnungsszene des Films:
zunächst wird der Hof gezeigt, dann geht die Kamera auf den schwitzenden James Stewart, dann sieht man sein Gipsbein, den kaputten Fotoapparat und an der Wand sieht man Fotos von sich überschlagenden Rennautos.
Mit einem einfachen Kameraschwenk weiss der Zuschauer sofort alles: den Beruf von Jeffries und wie es zu dem Beinbruch gekommen ist.
Da bedarf es keiner Worte mehr; gesprochene Erklärungen sind überflüssig.
Eine einzige Kamerafahrt erzählt eine ganze Geschichte. Genial!!!
Dazu glänzende Darsteller:
Ausser der schon erwähnten Grace Kelly wieder mal James Stewart.
Er spielt diese sich steigernde Voyeurs-Lust wirklich klasse.
In seiner Mimik spiegelt sich immer genau das, was er gerade durch's Fernglas gesehen hat: Freude, Misstrauen oder auch Mitleid. Er liefert praktisch genau die Regungen, die wir auch als Zuschauer haben.
Ein Genuss sicher auch die betagt-geschwätzige Krankenschwester, die Jeffries nicht nur den Rücken massiert, sondern ihm hin und wieder auch den "Kopf wäscht", wenn es um seine Beziehung zu Lisa oder seine "Spanner-Leidenschaft" geht.
In unserer Region würde man einen solchen Charakter als "knuffig" beschreiben.
Raymond Burr hat, wie du schon erwähntest, "Freak", eine stumme Rolle, und nur am Ende darf er Jeffries fragen:"Was wollen Sie von mir?"
Und plötzlich überträgt sich die Sprachlosigkeit auf James Stewart, der Thorwald eine Antwort schuldig bleibt. Er verteidigt sich mit dem Blitzlicht seines Fotoapparats.
Wenn man an den Rollstuhl gefesselt ist, muss man halt kreativ sein.
Sehr schöne Lösung!
Zum Schluss lasse ich noch mal Hitchcock selbst zu Wort kommen:
Ich wette, dass von 10 Leuten, wenn sie am Fenster gegenüber eine Frau sehen, die schlafen gehen will und sich auszieht, oder auch nur einen Mann, der sein Zimmer aufräumt, dass von 10 Leuten 9 nicht anders können als hinschauen. Sie könnten wegsehen und sagen:"Das geht mich nichts an." Sie könnten die Läden schliessen. Aber nein, das tun sie nicht, sie schauen hin so lange wie möglich.
Wo er recht hat, hat er recht.
Bei diesem Film kann ich auch nicht wegsehen.