Columbo: Ein Fisch im Netz (Teil 1)

Wir möchten versuchen, eine Columbo-Episode in Roman bzw. Comic Form zu schaffen. Falls ihr Ideen für einen neuen Fall habt schreibt es hier.

Columbo: Ein Fisch im Netz (Teil 1)

Beitragvon Columbologe » Sa, 17.06.2023 07:55


Eine denkbare neue Columbo-Folge - leider ist Peter Falk nicht mehr da, um sie zu verfilmen.

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KAPITEL 1

"Good old California hat uns wieder!"
Der dankbare Applaus seiner Fahrgäste war Musik in Tyron Corleys Ohren, nachdem der vollgepackte Reisebus die Staatsgrenze überquerte. Doch so unbeschwert fröhlich wie sonst nach einer langen Fahrt war der hagere Mittvierziger diesmal nicht. Er dachte an seine Frau Lucy, deren Mutter das Krankenhaus nicht mehr gesund verlassen zu können drohte. Nachdem das Fahrzeug im Depot abgestellt und die Fahrgemeinschaft ausgestiegen war, machte sich Mr. Corley auf den Weg, einen Fußmarsch anzutreten. Er hatte ein besonderes Anliegen, und weil sein alter Freund Agnus Hobbychemiker war, bot sich ein Besuch bei ihm an. Unterwegs nahm Corley sein Smartphone in die Hand und kündigte dem Freund digital sein Kommen an. Es war das letzte Häuschen, bevor der Wald begann, vor dem Tyron Corley stoppte und schellte.

"Tyron! Welch seltener Besuch in meinem bescheidenen Häuschen!", strahlte Agnus Redfield, ein leicht untersetzter Altersgenosse. Tyron trat ein. 

"Du meinst mein Häuschen. Ich war hier Kind, nicht du."

"Natürlich, mein Herr Vermieter, und dafür, dass du das Erbe deiner Eltern mir zum Wohnen überlassen hast, weil dir das Elternhäuschen der Frau deines Herzens in der Stadtmitte günstiger gelegen erscheint, dafür bin ich dir sehr dankbar."

"Und warum seltener Besuch? Ich komme doch immerhin sechsmal im Jahr zu dir. Hast du meine Facebook-Nachricht, dass ich gleich spontan bei dir rein schneien will, bekommen?"

"Nein, noch nicht, ich schaue selten in mein Facebook. Ich habe da zwar über 100 Freunde geaddet, aber es schreibt mir so gut wie nie einer. Es kommt auch keiner meiner früheren Schulkameraden mehr vorbei. Die Wege haben sich irgendwie getrennt. Übrig bist eigentlich nur noch du. Hin und wieder ein banales Schwätzchen mit den Nachbarn, das mir nichts gibt." 

"Du musst halt öfters rausgehen, Agnus. Frische, neue Kontakte müssen aktiv geknüpft werden; es fällt dir niemand plötzlich durch die Zimmerdecke und ist da für dich."

"Och nö... ich habe mich stets wohl gefühlt als Eigenbrötler und Langzeitsingle. Meinen Ansprüchen halten die Freunde und Frauen, die ich mir wünschen würde, eh nicht stand. Dabei fällt mir die Frage ein: Wie läuft's in deiner Ehe? Hat sich die Krise vom letzten Mal besänftigt?"

"Wir haben derzeit noch weniger Grund zur Freude. Lucys krebskranke Mutter liegt im Sterben. Es ist ein Elend, ihr Leid mit ansehen zu müssen." 

Agnus nahm Tyron bei der Schulter.

"Mein Mitgefühl ist dein." 

"Vor allem, weil die Alte uns ständig angefleht hat: Helft mir doch! Bereitet meiner Qual ein Ende! Es führt doch alles zu nichts mehr! Und mittlerweile kann sie noch nicht mal mehr flehen, geschweige denn reden."

"Der Qual ein Ende bereiten - wie meint sie das denn?"

"Na, sie will, dass wir ihr Verrecken sofort abkürzen, indem wir ihr zum Beispiel Gift ins Trinkglas mischen."

"Ah, deswegen dein Besuch bei mir! Weil du weißt, dass eins meiner Hobbys die Chemie ist und ich deswegen im Besitz einiger Chemikalien bin."

"Du hast mich durchschaut. Tatsächlich wollte ich dich im nächsten Satz fragen, ob du zufällig Zyankali im Keller hast."

"Sterbehilfe ist gegen das Gesetz. Man kann dich dafür einbuchten, Tyron. Ist es das wert? Die kurze Frist bis zur Erlösung kann deine Schwiegermutter doch auch noch abwarten."  

"Wer weiß, wie robust ihr Körper noch ist? Das kann noch lange dauern. Und wer macht denn bei so einer kranken Alten eine Autopsie, um Fremdeinwirkung ausschließen zu können? Außerdem ist dieser Aspekt unserer Verfassung menschenunwürdig und änderungsbedürftig. Diese Ideologie, jedes noch so ausgelutschte Leben um jeden Preis verlängern zu müssen, ist doch zum Kotzen oder siehst du das anders? Man will doch nur die Patienten möglichst lange hilflos wie einen Fisch im Netz an den Apparaten hängen lassen, um nochmal saftig an ihnen zu verdienen. Wenn wir noch nicht mal frei entscheiden dürfen, wann wir sterben wollen, was ist unsere angebliche Freiheit dann noch wert?"

"Ich stimme dir zu. Aber ich gebe dir trotzdem kein Zyankali mit auf den Weg. Allerdings..."

Agnus verstummte und schielte an die Decke.

"Worüber denkst du jetzt nach?"

"Wenn du Zyankali aus meinem Labor im Keller ohne mein Einverständnis, ohne meine Kenntnis und ohne meine Befürwortung entwenden würdest, dann hätte ich es dir ja nicht ausgehändigt, sondern wäre bestohlen worden. Dann gäbe es für mich nichts zu befürchten. Ich hätte mich gesetzeskonform verhalten und keine Beihilfe zum Mord geleistet. Und was die chemische Formel für Zyankali ist, habe ich dir auch nie verraten. Das kannst du aber mit deinem Smartphone googeln, einverstanden? Mach das mal eben, damit du aus meinem kleinen Labor im Keller die richtige Substanz klauen kannst!"

"Agnus, du bist ein echter Freund!" 

Tyron holte sein Smartphone hervor, welches an diesem Ort an seine Grenzen stieß.

"Kein Netz. Agnus, gibst du mir das Passwort für dein WLAN-Netz? Sonst kann ich nicht googeln."

"Ich schalte auf Hotspot, dann kannst du in mein Internet. Ich müsste das Passwort irgendwo notiert haben. Ah, hier. Bitte sehr, kannst du abschreiben."

"Brauche ich nicht abzuschreiben. Kann ich mir leicht im Kopf merken."

Duing! - Das Netz war da. Schon bald zitierte Tyron aus Wikipedia: 

"Zyankali oder Kaliumcyanid ist das Kaliumsalz der Blausäure und ein hochgradig gefährliches Gift. Etwa 140 mg sind für einen erwachsenen Menschen tödlich. Wenn Zyankali mit der Magensäure in Berührung kommt, bildet sich Blausäure, die dafür sorgt, dass der Körper keinen Sauerstoff mehr binden kann. Die Zellatmung setzt aus und der Vergiftete erstickt innerlich. Vergiftungen durch Blausäure sind sowohl durch das Schlucken des Stoffes als auch durch die Aufnahme über Haut und das Einatmen möglich. KCN ist die chemische Formel."

"Und genau das steht irgendwo in meinem Keller auf einem Etikett. Viel Erfolg bei der Suche!"

Mit einem dankbaren Schlag auf Agnus´ Schulter begab sich Tyron in den Keller des Hauses. Zwanzig Minuten vergingen, dann schallte es nach oben: "Endlich! Ich habe das Zeug gefunden!"

"Kein Wort darüber zu irgendwem außer vielleicht zu Lucy! Lass alle glauben, es war ein natürlicher Tod."  

"Darauf kannst du Gift nehmen! Äh, ich meine: Versprochen! Vielen, vielen Dank, Agnus! Vielleicht komme ich heute am späten Abend nochmal vorbei, falls es bis dahin schon überstanden ist, und berichte dir. Telefonisch kann ich sowas nicht machen; die Dinger werden ja abgehört."

"Ich werde bestimmt bis elf Uhr wach sein."


KAPITEL 2


Im Krankenhauszimmer herrschte betretenes Schweigen. Die Patientin sagte nichts. Vor ihrem Bett saßen Tyron und Lucy Corley. 

"Die Ärzte sagen, sie kann noch lange so liegen wie jetzt. Nicht ansprechbar, aber scheinbar bei vollem Bewusstsein dessen, was um sie herum geschieht."

"Mama? Wenn du mich hören kannst, dann blinzele mit den Augen. Blinzele einmal für Ja und zweimal für Nein."

Mrs. Winningham blinzelte einmal.

"Erinnerst du dich an deinen mehrfach geäußerten Wunsch, als du noch sprechen konntest?"

Mrs. Winningham blinzelte einmal. Lucy holte ein Fläschchen aus ihrer Jackentasche. Tyron sagte:

"Wir können ihn dir hiermit erfüllen. Es wäre dann in wenigen Minuten überstanden. Sollen wir dir davon ins Trinkglas schütten?"

Mrs. Winningham lächelte und blinzelte einmal. Tyron gab ca. 150 g seines Kaliumcyanids ins Wasserglas und betrachtete die Kristalle, wie sie sich auflösten. Er hob den Kopf seiner Schwiegermutter an und half ihr so beim Austrinken des Glases.

"Bald ist alles gut", sprach er, und die Dinge nahmen ihren Lauf...




Es war kurz nach halb zehn am Abend. Tyron und Lucy lagen sich in den Armen. Keine Spur von einer Ehekrise, wie sie geherrscht hatte. Tyron fühlte, er müsse noch einmal zu Agnus gehen, um ihm zu danken. Lucy bestand ebenfalls darauf und wollte sogar mitgehen.
"Nein, bleib du hier und genieße den Kerzenschein. Ich lasse unser Handy hier; dann kannst du noch weitere Bekannte und Verwandte anrufen. Es tut mir leid, dich schon wieder alleine lassen zu müssen, gerade jetzt, aber in Bakersfield hat einer unserer Busse einen Totalschaden und einer unserer Männer muss hin, um die wartenden Touristen morgen früh planmäßig nach L.A. zu bringen. Du weißt, wir haben Personalknappheit und ich muss leider diese Schicht übernehmen. Ich werde also im Bus übernachten müssen und komme morgen früh zurück. Aber wir sehen uns heute Abend nochmal, falls du noch wach bist. Andernfalls komm gut in den Schlaf, Liebes."

Er küsste sie zärtlich und ging aus dem Haus. Wieder zu Fuß machte er sich auf den Weg von der Stadtmitte bis zum Haus seiner Kindheit, in dem wie angekündigt um halb elf das Licht brannte, da sein Freund Agnus noch wach war. Tyron klingelte und sofort wurde ihm geöffnet.

"Na, was hat's gegeben?", grinste Agnus ahnungsvoll. 

"Am frühen Abend gegen 19 Uhr hat meine Schwiegermutter ihre Augen für immer geschlossen. Keinem der Ärzte kam das komisch vor und keiner hat zum Beispiel den Tascheninhalt von Lucy oder mir kontrollieren wollen, bevor wir gingen. Der Totenschein wurde ratzfatz ausgestellt und die Todesursache ist offiziell Lungenversagen nach Lungenkrebs. Niemand wird je etwas anderes denken. Mein Gewissen sagt mir, dass es eine gute Tat war. Danke, dass du mir indirekt geholfen hast, alter Freund."

"Eine gute Tat... ob die Polizei das auch so sehen wird?"

"Wohl nicht. Die dürfen ja nicht auf ihr Herz hören. Was richtig und falsch ist, sagt ihnen allein der Gesetzgeber. Und werden die Gesetze geändert, hängen Polizisten ihre Fahnen schlagartig in den neuen Wind."

"Dann, Tyron, solltest du dafür sorgen, dass ich es den Bullen nicht mitteile. Sonst wird doch noch eine Autopsie angeordnet und du wärest in einer kaum beneidenswerten Lage. Die Anklage könnte vorsätzlicher Mord heißen."   

"Bitte???" - Tyron riss die Augen auf.

"30.000 Dollar halte ich für ein angemessenes Schweigegeld."

"Waaas?" - Tyron war außer sich.

"Verdienst du als Busfahrer so viel nicht? Dann bin ich gnädig und gehe runter auf 20.000." 

"Natürlich habe ich so viel nicht! Bin ich etwa Unternehmer? Jetzt sag mir bitte nicht, dass ich mich ein Leben lang in dir getäuscht habe, weil ich dich immer für einen anständigen Kerl gehalten habe."

"Bestimmt ist das der Grund, weshalb ich alle alten Kumpels nach und nach verliere: weil ich eben kein anständiger Kerl bin. Auch ich suche immer nur meinen Vorteil. Tja, schade, ich kann halt nicht raus aus meiner Haut."

"Du willst mich echt jetzt erpressen? Das ist kein Witz?"

"Wenn du nicht drüber lachen kannst, ist es wohl auch kein Witz. Weißt du, ich entdecke neuerdings beim Surfen auf amazon so viele hübsche Sachen, die ich mir nicht leisten kann, obwohl ich sie so gerne hätte. Das ist ein Jammer und es deprimiert mich. Ich bekomme doch so gerne Pakete, aber für viele Bestellungen brauche ich auch viel Kohle. Ich müsste zum Beispiel mal meine Garderobe erweitern. Findest du nicht auch, dass die Klamotten in meinem Schrank alle out sind?" 

"Dieser Gürtel sieht mir aber noch sehr up to date aus." 

"Ich brauche keine Gürtel mehr, seit ich in den übergewichtigen Bereich meiner Waage reingerutscht bin. Keine Hose ist mir noch zu weit."

"Dann schnall dir den Gürtel doch um den Hals!"

"Das sähe albern aus."

"Mal ausprobieren! Anstatt dass ich bezahle, ist mir lieber, du bezahlst selber, und zwar mit deinem Leben!"

"Zu teuer!"

Tyron Corley würgte Agnus von hinten, was dank der Gegenwehr nicht so einfach war.
"Lass das, Tyron! Ich ziehe meine Forderung zurück. Lass uns wieder Freunde sein!" Aber der Erpresste ließ nicht locker.

"Ich mache es wie alle anderen und breche die Freundschaft ab. Ein Freund verrät einen Freund nicht. Ein Freund kann schweigen."

Ohne Aussicht auf Rettung aus dieser Bredouille lag Agnus hilflos röchelnd auf seinem Teppichboden, den Gürtel, an dessen Enden Tyron mit aller Kraft zerrte, zweifach um seinen Hals geschlungen und den Angreifer auf seinem Rücken sitzend. Es war 22:45 Uhr, als er für immer verstummte. Tyron fühlte den Puls, um sicher sein zu können, dass sein Opfer nicht bloß den Besiegten spielte.
Eine wilde Gedankenflut überkam Tyron Corley, der bemüht Struktur in seinen Kopf zu bringen versuchte:
Jetzt habe ich aber was Schlimmes getan. Im Gegensatz zu meiner edlen Sterbehilfe von vorhin war das jetzt eine gewollte Tötung gegen den Willen des Sterbenden. Es lebe der kleine, feine Unterschied. Was soll ich jetzt machen? Ich habe kein Alibi. Aber was für ein Glück, dass Lucy nicht mitgekommen ist, so wie sie zuerst wollte! Ihr kann ich das nicht erzählen. Aber zu dumm, dass ich das Handy bei ihr gelassen habe, damit sie die vielen anstehenden Anrufe wegen ihrer Mutter erledigen kann. Jetzt könnte ich mein Facebook wirklich gut gebrauchen. Halt! Ich kenne doch Agnus´ WLAN-Passwort. Ich kann mich über sein Smartphone in mein Account einloggen.

Geschlagene fünf Minuten starrte Tyron konzentriert auf das Display, während seine Finger mit Sorgfalt und dennoch blitzschnell über die Tasten fuhren.

So, jetzt wieder ausloggen... hab´ ich das geschafft! Und wenn möglich, wieder bei Agnus´Account einloggen. Ja, das geht automatisch; sein Smartphone hat sein Facebook-Passwort gespeichert. Wunderbar! Jetzt habe ich auf jeden Fall schon mal ein glaubhaftes Alibi, falls mich je irgendwer danach fragen sollte, falls Agnus so zeitig gefunden werden sollte, dass man den genauen Todeszeitpunkt noch herausfinden kann. Aber was wird nun mit dem toten Körper? Soll ich ihn einfach so liegen lassen und verschwinden? Was nützt er mir so? Getreu seinem Motto "immer den eigenen Vorteil suchen" könnte ich es doch so drehen, dass ich eventuell noch einen finanziellen Vorteil durch seinen Tod habe. Wenn es schwarz auf weiß steht, dass ich von Agnus noch Miete kriege, habe ich vielleicht sogar das Recht, aus seinem Nachlass etwas abzuzweigen, was mir zusteht. Und wenn ein Mann, den alle Freunde verlassen haben, sich aus Kummer das Leben nähme, wen würde das wundern? Im Keller sah ich heute Nachmittag ein Seil. Das kann ich brauchen.

Zum zweiten Mal am Tag ging Tyron die Kellertreppe herab. Er überlegte, ob es Not täte, seine Fingerabdrücke von allem, was er am Nachmittag angefasst hatte, abzuwischen. Doch dann dachte er: Quatsch, ich kann immer behaupten, ich hätte meinem Freund bei seinen chemischen Experimenten manchmal assistiert. Nun an die Arbeit!

Er kam mit einem Strick ins Erdgeschoss zurück und nahm eine Petroleumlampe von einem Haken an der Zimmerdecke.
Wo bislang diese altbackene Lampe zu hängen pflegte, wird gleich Agnus Redfield hängen, dachte Tyron. Gut, dass man ihm den Erstickungstod im Gesicht ansehen kann!

Tyron band eine Schlinge, zog sie Agnus um den Hals und befestigte den straff gezogenen Strick an dem Deckenhaken. Da baumelte der Freund nun. Tyron dachte bei sich: 
Man fragt sich glatt, von wo er bloß abgesprungen sein mag. Anbieten würde sich dafür dieser Stuhl. Ich lege den Stuhl mal hin, so als wäre er von dem Schwung des Absprungs umgekippt. Damit die Polizei restlos zufrieden sein kann, brauche ich noch eine Abschiedsmitteilung mit plausiblem Motiv. Geld ist die Wurzel allen Übels, wie wir soeben erfahren mussten. Also am besten ist, Agnus war verschuldet. Aber wenn das niemand bestätigt, ist dieses Motiv wackelig. Dann werde ich es halt bestätigen. Mir schuldete Agnus Geld. Ich bin sein Vermieter und kann behaupten, er habe die letzten Monate nicht bezahlt. Als Auslöser für die Selbsttötung könnte eine letzte Mahnung und die Androhung einer Freundschafts- und Mietvertragskündigung herhalten. Ich, sein allerletzter Freund, wollte ihn nun auch noch verstoßen. Da griff Agnus verzweifelt zum Strick. Die Mahnung von mir muss aber schon hier rumliegen, wenn ich gleich fortgehe. Ich darf mich dabei nicht auf die Post verlassen. Am Ende wird die Leiche noch gefunden, bevor mein Schreiben hier zugestellt wird, und die ganze Sache fliegt auf.  

Tyron Corley griff nach einem der Bleistifte, die auf Agnus´ Schreibtisch lagen. Er schrieb seinen Brief gleich hier und ersparte sich den riskanten Postweg:

"Los Angeles, 15. Juni
Lieber Agnus,

es ist mir sehr unangenehm, Dir diese letzte Mahnung aussprechen zu müssen, aber leider sehe ich mich nach unserem heutigen Gespräch gezwungen, Dir die Wohnung zum 1. Juli kündigen zu müssen, solltest Du bis dahin die letzten vier Monatsmieten nicht nachzahlen können. Hochachtungsvoll, Tyron Corley."  

Er faltete den Brief zweimal, damit es so aussah, als habe er in einem Briefumschlag gesteckt. Tyron wollte später aussagen, er hätte den Brief persönlich durch den Briefkastenschlitz an der Haustür eingeworfen. Jetzt musste er noch Agnus´ Finger auf das Papier pressen, damit hinterher nicht jemand daran zweifeln würde, dass der Selbstmörder den Brief überhaupt angefasst und gelesen hat. Jetzt ging Tyron wieder an Agnus´ Smartphone. Er musste per Facebook die Ankündigung eines nun folgenden Suizids in die Welt hinaus entsenden. Tyron tippte phantasievoll einen Text in den Facebook-Status seines Opfers, wischte seine Fingerabdrücke sorgfältig von allen Tasten und dem Gehäuse, gab das Smartphone dem hängenden Toten in die Hände, bewegte es darin hin und her und legte es anschließend mit einem Taschentuch auf den Schreibtisch. Das Licht ließ er an, als Tyron Corley den Tatort verließ, denn niemand würde sich im Dunkeln aufhängen. Er war zufrieden, denn er hatte an alles gedacht. Wer mochte Agnus wohl finden? 

Auf dem Weg zurück in die Stadtmitte warf Tyron den mörderischen Gürtel in einen weit entfernten Müllcontainer. Lucy schlief schon, als er um Mitternacht ankam. Es war ein langer Tag und er hätte jetzt gerne geschlafen, aber es rief die Pflicht. Er nahm sein Smartphone wieder an sich und begab sich zum Busdepot. Niemand um die Zeit sah ihn mit einem Bus vom Parkplatz davon fahren. In zwei Stunden würde er in Bakersfield sein.


KAPITEL 3


Es war 10 Uhr am Morgen, als Inspektor Columbo in dem Häuschen kurz vorm Wald seine Arbeit aufnahm. 

"Guten Morgen, Inspektor, heute mal gut ausgeschlafen?"   

"Danke der Nachfrage, Kramer, ja, heute ist es wirklich mal eine menschliche Uhrzeit. Ich war schon wach, bevor der Wecker klingelte. Was haben wir denn hier?"

"Sieht nach Selbstmord aus. Der Tote ist ein gewisser Agnus Redfield, 46 Jahre, alleinstehend. Er hat um 23 Uhr 25 eine Abschiedsnachricht in seinem Facebook-Konto hinterlassen und sich daraufhin wohl das Leben genommen. Aber niemand von seinen digitalen Kontakten rief uns deswegen besorgt an, sondern gefunden wurde er um 9 Uhr 16 von Mr. Preston hier."

Columbo wandte sich an den Herrn zu Sgt. Kramers Rechten.    

"Sie haben die Leiche gefunden, Sir?  Brannte das Licht?"

"Ja, als ich an der Haustür schellen wollte, um Mr. Redfield ein Paket zu übergeben. Ich liefere beruflich Pakete aus, Inspektor. Als niemand öffnete, sah ich durchs hell erleuchtete Fenster und bemerkte den Körper, der auf den ersten Blick scheinbar in der Luft hing. Dann sah ich genauer hin und erblickte auch den Strick. Dann rief ich sofort die Polizei. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand, der noch Einkäufe empfängt, seinem Leben ein Ende setzen würde, aber man kann niemandem hinter die Stirn schauen. Müssen Sie noch etwas wissen oder kann ich weiter arbeiten? Ich habe wirklich noch viele Pakete heute zuzustellen."

Columbo winkte ihn fort.

"Wenn wir noch was wissen müssen, melden wir uns, Mr. Preston. Danke für Ihre Kooperation. Sie können gehen. Sergeant? Der Arzt hat den Tod offiziell festgestellt? Wann wird die Leiche los geschnitten?"

"Wenn Sie Ihr Okay dazu geben, Inspektor. Dies ist schließlich jetzt Ihr Fall."

"Nun... wenn es die Pietät nicht allzu sehr strapaziert, würde ich mir gerne in Ruhe den Toten anschauen. Wie spät haben wir es?"

"Es ist jetzt 10 Uhr 07." 

"Geben Sie mir einen Arbeitstag Zeit, Kramer. Heute Abend spätestens legen wir den Toten in die Horizontale zum ewigen Frieden. Zeigen Sie mir mal diese Abschiedsmitteilung in dem sozialen Netzwerk!"

"Hier, das Smartphone war auf Hotspot geschaltet und lag auf diesem Schreibtisch. Wir mussten keine Zugangsdaten in Erfahrung bringen; es war auch keine PIN-Nummer erforderlich, um das Facebook-Konto einsehen zu können. Der Tote hatte wohl zu seiner eigenen Erleichterung alles so einfach wie möglich eingestellt."

"Meine Frau hat sich jetzt auch so eines zugelegt. Sie hat es ständig dabei, weil sie immer erreichbar sein will. Aber ich habe immer noch keins."

"Interessant ist vielleicht nicht nur die Meldung, die Mr. Redfield selber schrieb, bevor er starb, sondern auch die, die er gestern von einem Freund erhielt. Hier, lesen Sie mal!"

">>Hi Agnus, würde gerne gleich auf einen Sprung bei dir vorbei kommen, bist du zuhause?<< Gesendet von Tyron Corley. Dann werden wir den einmal ansprechen müssen. Vielleicht ist er ein wichtiger Zeuge."




Es war Mittag, als Columbo an der Haustür eines kleinen Einfamilienhauses in der Mitte von Los Angeles schellte. Eine in Schwarz gekleidete Frau mittleren Alters öffnete ihm hektisch.

"Sind Sie Mister Avnet, der Bestattungsunternehmer?"

"Ähm...nein, Madame. Inspektor Columbo ist mein Name, ich komme wegen eines Mister Agnus Redfield und ich wollte zu einem gewissen Tyron Corley."

"Verzeihen Sie, ich erwarte noch einen unbekannten Besucher. Entschuldigung, dass ich keine Geduld habe, ein kultiviertes Gespräch mit Ihnen zu führen, aber gestern ist meine Mutter verstorben und ich habe alle Hände voll zu tun."

"Das tut mir aufrichtig leid. Ich wollte auch gar nicht zu Ihnen, sondern zu Ihrem Mann, falls Mister Tyron Corley Ihr Mann ist."

"Das ist er, aber Tyron arbeitet gerade. Er müsste mittlerweile wieder in der Stadt sein. Sie finden ihn an irgendeiner Haltestelle irgendeiner Buslinie. Ich gebe Ihnen die Nummer seiner Einsatzstelle; dort kann man Ihnen sagen, an welcher genauen Stelle Sie ihn heute antreffen können, wenn es so dringend ist. Was ist übrigens mit seinem Freund Agnus?"

"Ach, das jetzt zu erklären, würde zu viel von Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen. Haben Sie vielen Dank, Madame. Und nochmals herzliches Beileid zum Verlust der Mutter. Ich werde schauen, ob ich Ihren Mann auftreiben kann."


KAPITEL 4

    
Es war halb zwei am Nachmittag. Columbo rauchte eine Zigarre an der Bushaltestelle Valley College. Dann kam der Bus und er löschte die Zigarre, die er daraufhin in seiner Manteltasche verschwinden ließ. Er stieg ein und sprach den Fahrer an:

"Kann man hier bei Ihnen eine Fahrkarte kaufen, Mister... Corley?"

"Sie kennen meinen Namen, das gefällt mir. Gehen Sie ruhig durch und suchen Sie sich einen Sitzplatz. Sollte der Fahrkartenautomat streiken und sollten Sie kontrolliert und ohne Fahrschein erwischt werden, werde ich ein gutes Wort für Sie einlegen." 

"Ich schätze, eine Dienstfahrt wie diese wird für mich gratis sein. Mein Name ist Inspektor Columbo, Mordkommission. Ich habe lange versucht, Sie zu finden, Mister Corley, und jetzt ist es mir endlich gelungen. Ich müsste ganz dringend mit Ihnen sprechen. Sie kennen doch einen Agnus Redfield." 

Corley schloss per Knopfdruck die Eingangstüren und fuhr an.

"Ich muss meine Zeiten einhalten, Inspektor. Wir haben sowieso schon Personalknappheit. Ich bin eben aus Bakersfield gekommen und fahre zum Ende meiner Schicht jetzt noch eine Strecke im L.A.-Nahverkehr zum Depot. Setzen Sie sich auf den Platz hinter mir oder bleiben Sie stehen! Es wird Ihnen hoffentlich nichts ausmachen, wenn wir weiterfahren, während wir reden."

"Überhaupt nichts, Sir. Ich sehe mir gerne die Gegend an. Fahren Sie ruhig Ihre Route weiter; ich will nicht, dass Ihre Fahrgäste meinetwegen ihre Termine verpassen. Aber um auf meine Frage nach Mister Agnus Redfield zurück zu kommen..."

"Ja, Agnus ist ein alter Freund von mir, zumindest derzeit noch. Ich kenne ihn schon seit der Schulzeit. Was ist mit ihm?" 

"Allem Anschein nach hat er sich gestern gegen Mitternacht den Strick genommen."

Mit entsetztem Blick und aufgerissenen Augen sah Corley in Columbos Gesicht.

"Passen Sie bloß auf! Sehen Sie auf die Straße, Sir! Nicht, dass wir deswegen noch einen Unfall bauen!" 

"Verfluchter Mist! Agnus ist also tot?!"

"Das ärgert Sie, nicht wahr? Sie haben von Mister Redfield noch Geld erwartet, soweit ich weiß." 

"Das kann ich mir jetzt wohl abschminken. Aber das ist wirklich sekundär. Ich habe noch nie einen Freund, einen Gleichaltrigen durch Tod verloren."

"Kommt alles irgendwann zum ersten Mal vor. Wenn Sie wollen, sitze ich gleich hier vorne bei Ihnen und werfe auch ein wachsames Glasauge auf den Verkehr, damit wir heil am Ziel ankommen." 

Der Bus hielt am Supermarkt an. "Duing!" - ein unidentifizierter Piepton vor dem Öffnen der Türen ließ Columbo bange um sich schauen, doch als die Fahrgäste aus- und eingestiegen waren und die Türen sich wieder schlossen, war er beruhigt und setzte die Unterhaltung fort:

"Wenn Sie sich gefangen haben, Sir, würde ich Ihnen gerne einige dringende Fragen über Agnus Redfield stellen wollen. Was für ein Mensch war er denn so?" 

"Ich bin wie gesagt mit ihm in die Schule gegangen. Er ließ mich oft seine Hausaufgaben abschreiben. Er war in jedem Fach immer ein bisschen besser als ich. Nach der Schulzeit blieben wir in Kontakt und trafen uns regelmäßig, zum Beispiel zum Biertrinken. Als ich aus meinem Elternhaus auszog, nachdem meine Eltern starben, zog ich bei meiner Frau und ihrer Mutter ein und ließ Agnus zur Miete in meinem alten Haus wohnen."

"Was tat er beruflich?"

"Er bezog bereits Arbeitsunfähigkeitsrente. Seine Schulter war bei einem Arbeitsunfall in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass er als Fachlagerist nicht mehr einsatzfähig war."  

Sie kamen an die nächste Haltestelle. Duing! - Columbo wunderte sich erneut über das Geräusch, das er nicht zuordnen konnte.

"Was sind das immer für Geräusche aus Ihrer Richtung? Mit dem Bus ist doch hoffentlich alles in Ordnung? Mein Wagen gibt auch manchmal Geräusche von sich, so puff und peng, und wenn er das tut, dann ist meistens der nächste Termin bei meiner Werkstatt nicht mehr fern. Aber dieses Duing kann ich schwer einschätzen." 

"Meinen Sie den Signalton meines privaten Smartphones? Das hat damit zu tun, dass ich in der alten Kneipe, die wir gerade passiert haben, ab und zu Gast bin. War Agnus übrigens auch. Heute nach Feierabend werde ich wohl auch einen Drink benötigen und hingehen. Zwei Tote an einem Tag. Erst gestern ist nämlich auch meine Schwiegermutter verstorben."

"Glückwunsch! Da Sie gerade davon sprechen... Mr. Redfield hatte auch so ein elektronisches Gerät... Ich verstehe nicht viel von solchem modernen Schnickschnack, aber Sgt. Kramer zeigte mir, dass Mr. Redfield gestern am Nachmittag über seinen Facebook-Chat eine Nachricht von Ihnen erhalten hat, in der es hieß, Sie würden gleich auf einen Sprung bei ihm vorbei schauen wollen. Somit sind Sie vermutlich der Letzte, der ihn lebend gesehen hat. Und das macht Sie für mich so interessant."

"Das ist bestimmt richtig. Ich habe Agnus gestern Nachmittag noch besucht. Ich sehe ihn noch bildlich vor mir. Es fällt mir schwer zu glauben, dass er jetzt aus der Welt ist und dass ich ihn nie wieder sehen kann. Er hat gar nicht gesagt, dass er zu sterben gedenkt."

"Ich habe mich ein wenig in Mr. Redfields Haus umgeschaut und bin dabei auf eine Fülle an chemischen Substanzen in seinem Keller gestoßen. Allerlei gefährliches, tödliches Zeug. Und ich frage mich, wenn er seinem Leben schon ein Ende bereiten wollte, warum hat er sich nicht mit einer dieser toxischen Gifte umgebracht? Sein lebenslanges Hobby hätte dann am Ende seinen Zweck erfüllt." 

"Vielleicht wäre ein Tod durch Chemikalien aber die qualvollere Art zu sterben gewesen." 

"Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieses elendige, langsame Sterben am Strick weniger qualvoll war. Man bekommt keine Luft mehr... man hat den Boden unter den Füßen verloren... man will es sich vielleicht noch anders überlegen, aber man hat die Kraft nicht mehr..."

"Columbo, ersparen Sie mir bitte die Vorstellung, wie mein alter Freund gelitten haben wird in den letzten Momenten seines Lebens. Ich kann den Gedanken wirklich nicht so leicht verdauen wie Sie denken."

"Ich bitte um Verzeihung, Sir. Sie können ihn übrigens nochmal sehen, wenn Sie möchten. Er wurde auf meinen Wunsch hin noch nicht in die Leichenhalle gebracht. Wenn Sie mich nach Ihrer Fahrt begleiten wollen, bringe ich Sie zu ihm. Da sind sowieso noch ein paar Kleinigkeiten, die ich Ihnen zeigen möchte. Darf ich Sie fragen: Bei dem Besuch gestern, worum ging es da und in welcher psychischen Verfassung war Ihr Freund? Wirkte er im Nachhinein betrachtet am Nachmittag bereits selbstmordentschlossen?"    

"Sagte ich doch eben. Nein, keine Spur davon. Wir sprachen über seine Schulden bei mir und dass ich langsam keine Lust zu warten mehr habe und dass ich noch eine schriftliche Mahnung aufsetzen werde, um der Sache ein wenig offizielles Gewicht zu verleihen. In einen Freudentaumel hat ihn das freilich nicht versetzt. Bin ich mit meiner Einforderung der überfälligen Miete etwa der Auslöser für diesen traurigen Selbstmord gewesen? Das würde ich mir nie verzeihen." 

"Reden wir uns nichts ein! Es besteht die Möglichkeit, dass es ohne Ihr Mahnschreiben, das ich auf Mr. Redfields Schreibtisch fand, keinen Suizid gegeben hätte. Aber es ist immer unmöglich, hinterher zu beurteilen, wie etwas gekommen wäre, wenn die Bedingungen vorher anders gewesen wären."    

"Wann genau hat Agnus sich das Leben genommen?"

"Das können wir anhand der Körpertemperatur ungefähr einkreisen. Irgendwann gestern gegen oder nach Mitternacht, auf jeden Fall wohl, nachdem er sich per Facebook verabschiedet hat. Zum Glück wurde er relativ früh entdeckt, sodass wir die Möglichkeit haben, den Todeszeitpunkt in diesem Zeitrahmen einzuordnen. Ein Paketbote, der eine Warensendung für Mister Redfield aushändigen wollte, musste heute Vormittag an seiner Wohnungstür klingeln und sah dabei durchs Fenster den leblosen Körper an einem Strick hängen."

"Er hat sich per Facebook verabschiedet? Ich hatte seither noch gar keine Zeit, in mein Facebook zu schauen."

"Geben Sie mir gerne Ihr Gerät und ich lese für Sie vor, während Sie weiterfahren. Wenn ich nur wüsste, wo ich meine Lesebrille hingesteckt habe! In die Mantelinnentasche? Nein, da ist nur Ihr Mahnbrief. Na, den brauche ich ja auch jetzt! Ah, hier ist meine Brille!"

Als er an einer Ampel hielt, zückte Corley sein Smartphone.

"Ich habe mich ins Facebook eingeloggt, Inspektor. Oh, da sind jede Menge neue Kommentare zu den Fotos, die ich gestern Abend in Bakersfield hochgeladen habe. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Klicken Sie auf das Profil von Agnus Redfield!"
  
"Ich glaube, ich weiß sogar, wie es geht. Aaah ja! Also um 23:25 Uhr schrieb Agnus: >> Liebe Leute! Nehmt nie eine Mietwohnung von einem Freund an! Wenn ihr mal pleite seid, könnte das das Ende eurer Freundschaft sein. Wer wüsste das besser als ich, der aller Freunde verlustig gegangen ist? Heute hat Tyron mein Vermieter seine letzte Mahnung bei mir eingeworfen. Es wächst mir einfach alles über den Kopf. Ich fühle mich wie ein Fisch im Netz, dessen Ende besiegelt ist. Deshalb suche ich jetzt die Flucht aus diesem irdischen Jammertal. Lebt wohl.<<" 

"Entsetzlich! Und ich habe es nicht direkt gelesen."

"Und auf seinem Schreibtisch lag dieser besagte Brief von Ihnen. Den brauche ich Ihnen wohl nicht vorzulesen. Sie wissen ja, was Sie geschrieben haben. Ich lese ihn nur nochmal für mich selbst durch, bevor wir darüber reden... Ha, na so ein Zufall!"

"Was ist?"

"Sie haben in Ihrem Brief >>Mahnung<< ohne >h< geschrieben."

"Ist das falsch?"

"Na klar ist das falsch. Aber das Ulkige kommt erst noch: In seiner Abschiedsmeldung hat Mr. Redfield denselben Rechtschreibfehler gemacht. Alles andere ist meiner bescheidenen Kenntnisse nach zu urteilen korrekt geschrieben, sowohl in dem einen als auch in dem anderen Schreiben. Bloß der Mahnungs-Patzer kommt in beiden vor. Zufälle gibt's!"

Dass er sich ärgerte, ließ sich Tyron nicht anmerken.

"Wie kam es eigentlich dazu, dass Ihr Freund Ihnen so viel Miete schuldete?"

"Die letzten vier Monate hatte er halt nicht bezahlt. Angeblich aus Geldknappheit."

"Gibt es dafür irgendwelche schriftlichen Belege, Bankauszüge oder sowas? Oder war das Mietverhältnis ein Handschlagvertrag auf Vertrauensbasis?" 

"Leider Letzteres. Alle zwei Monate trafen wir uns privat und bei der Gelegenheit zahlte er immer bar seine Miete. Ich bereue es, dass es keine Kontoüberweisungen gibt. Jetzt bleibe ich auf dem Geld sitzen, oder?"

"Das war leichtsinnig von Ihnen, Mr. Redfields Ehrenwort, Ihnen die Miete nachzuzahlen, für bare Münze zu nehmen ohne vertragliche Absicherung. Warum hat er wohl keinen Kredit bei seiner Bank aufgenommen?" 

"Er war gegen Kredite. Er sagte, durch Kredite würden erst Schulden entstehen, die hinterher niemand mehr zurückzahlen kann. Ich finde, ich hatte lange genug gewartet, deshalb warf ich ihm gestern nach unserem Treffen noch meine letzte Mahnung durch den Briefkastenschlitz. Anschließend ging ich auf Dienstfahrt bis nach Bakersfield. Dann habe ich dort im Bus geschlafen und fuhr heute früh mit den Touristen zurück."

"Ja, Sie sagten schon, dass ich Sie kurz vorm Ende Ihrer Schicht antreffe. Gleich haben Sie zum Glück endlich Feierabend."

"Dann zeige ich Ihnen die Fotos aus dem River Walk Park in Bakersfield, wo ich gestern Abend war." 

Das Depot war erreicht und Tyron konnte Feierabend machen. Hätte Columbo seinen Wagen in der Nähe geparkt, hätte er die Rollen jetzt umgedreht und den Fahrer chauffiert. Stattdessen nahmen beide einen anderen Bus Richtung Tatort. 

"Sie sind wirklich ein ausgezeichneter Busfahrer, Sir. Ich meine, ich teile Ihnen den Tod Ihres langjährigen Freundes mit und Sie können trotzdem ganz professionell und konzentriert ohne Pause Ihre Route fahren und sogar noch den Zeitplan einhalten."

"Danke. Jetzt da wir beide nicht auf den Verkehr achten müssen, kann ich Ihnen ja zeigen, wo ich heute Nacht war. Sehen Sie mal. Wissen Sie, wo das ist?"

"Los Angeles scheint es nicht zu sein und anderswo kenne ich mich nicht aus."

"Das ist das Spectrum Amphitheatre vom Park at River Walk, und das bei Nacht. Ist die Beleuchtung nicht eindrucksvoll?"

"Ja, sehr beeindruckend."

"Eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten von Bakersfield. Meinen Facebook-Freunden gefällt es auch. Sehen Sie? 43 Likes habe ich für die Bilder in den letzten vierzehn Stunden erhalten. Um 22:56 Uhr gestern Abend habe ich die Bilder veröffentlicht."

"Gleich zeige ich Ihnen auch was, Sir, Sie werden ebenfalls staunen."

Der Bus bog um die Ecke.


KAPITEL 5


Am Nachmittag betrat Tyron Corley den Tatort mit Inspektor Columbo als Begleiter. Als sein Blick auf Agnus Redfields Leiche fiel, spielte er den Geschockten: 

"Agnus hängt ja noch am Strick! Wie ist das zu rechtfertigen? Ich bin empört."

"Wieso sind Sie jetzt überrascht? Ich sagte Ihnen doch, ich habe noch nicht meinen Befehl zum Abschneiden gegeben, weil ich etwas Verdächtiges bemerkt habe. Ich möchte es Ihnen gerne zeigen." 

"Ein schrecklicher Anblick! Was denken Sie sich nur dabei? Was sind denn Sie für ein Mensch, Columbo?" 

"Die Wirklichkeit ist dem Menschen zumutbar. Wäre da nichts Verdächtiges, hätten wir den Toten schon runtergeholt. Aber sehen Sie sich Mr. Redfields Hals bitte von nah an. Fällt Ihnen daran etwas Ungewöhnliches auf?"  

Widerwillig ging Tyron näher an den Leichnam heran und sagte:

"Er pulsiert nicht mehr so wie er es immer tat."

"Bemerken Sie nicht diesen über drei Zentimeter breiten Abdruck im Fleisch? Der kann nicht von dem Strick stammen, denn der Strick, an dem er hängt, ist nur 1,7 cm dick. Ich habe es abgemessen und man sieht es auch mit bloßem Auge."

"Dann hat dieser Abdruck eben mit dem Strick und dem Tod nichts zu tun. Und weiter?"

"Schauen Sie mal da oben. Der Haken an der Decke sieht ganz schön wackelig aus. Wollen wir mal einen Soliditätstest machen? Ich setze mal den Körper in Bewegung, so dass er hin und her schwingt."

Columbo schubste den hängenden Körper an, der nach wenigen Pendelbewegungen laut zu Boden plumpste, was Tyron Corley noch mehr empörte. Er schrie:

"Jetzt brauchen Sie Ihren Befehl zum Abschneiden nicht mehr zu geben, Columbo! Jetzt ist er von selber runtergekommen. Welch furchtbare Situation! Als ob ich die je wieder vergessen könnte! Ein Trauma!"

"Ja, der Haken ist aus der Decke gerissen. Das verwirrt mich ehrlich gesagt mehr als dass es mich traumatisieren könnte. Ich denke mir, wäre Mr. Redfield in seinen Tod gesprungen, hätte der Haken die Belastung nicht ausgehalten und der Körper wäre lebendig zu Boden gefallen."

"Ihre Gedanken sind wirrer Natur, fürchte ich."

"Ich könnte mir auch gut vorstellen, Mr. Redfield wurde vorher erwürgt und dann leblos an den Haken gehängt." 

"Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass der Haken erst durch das längerfristige Hängen des schweren Leichnams so locker geworden sein könnte? Vorher zum Zeitpunkt des Absprungs kann er vielleicht noch stabil in der Decke gesteckt haben."  

"Das könnte durchaus so sein, Sir, aber warten Sie. Stellen wir den umgekippten Stuhl mal auf! Jetzt müsste Ihnen aber was Merkwürdiges auffallen." 

"Er ist ziemlich niedrig, meinen Sie das?"

"Volltreffer! Mr. Redfields Füße hängen höher als die Sitzfläche des aufgestellten Stuhls, von dem er abgesprungen sein müsste. Denn welche andere Absprungstelle wäre hier in der Nähe? Keine außer dem Stuhl. Aber wie soll man springen können, wenn man nicht mal drauf stehen kann, weil der Strick, der von der Decke hängt, zu kurz ist? Ich würde sagen, das ist physikalisch unmöglich, sich auf die augenscheinliche Art das Leben zu nehmen."

"Dann war es anders als es den Anschein hat. Was schlagen Sie vor, wie es stattdessen war?"

"Ich tippe auf Mord. Schon von Berufs wegen, weil ich von der Mordkommission bin. Und dann sind da auch noch unter den Fingernägeln des Opfers Spuren von Leder. Ich sage, er muss mit einem Ledergürtel stranguliert worden sein. Diese Mordwaffe haben wir im Kleiderschrank allerdings nicht gefunden. Der Mörder wird sie beseitigt haben, schlau wie er ist."

"Haben Sie sonst noch was oder ist das alles?"

"Ich denke auch, ein einsamer Mensch wie Agnus würde einen Selbstmord mit sich alleine ausmachen. Es passt nicht zu ihm, eine Abschiedsmitteilung an irgendwen zu hinterlassen, und er adressiert ja auch niemanden konkret, nur eine anonyme Masse. Also erfüllt der Abschiedsgruß den Zweck, den Selbstmord glaubhaft zu machen. Er hätte wenigstens noch >>Liebe Eltern<< schreiben können."

"Agnus war aber bereits Vollwaise, genau wie ich."

"Pardon, das wusste ich nicht."

"Sie wissen rein gar nichts über das Leben Ihres Todesfalls, fühlen sich aber befähigt zu einer Psychoanalyse. Lächerlich! Lassen Sie mich jetzt bitte in die Kneipe gehen, an der wir heute vorbeigekommen sind. Ich brauche einen Drink."

"Sie können gehen, Sir. Vielleicht muss ich Ihnen morgen noch ein paar Fragen stellen."

"Wenn Sie müssen, muss ich auch. Auf Wiedersehen."

Corley verließ den Ort des Verbrechens zum wiederholten Male, diesmal weniger siegesgewiss als direkt nach der Tat. An alles hatte er wohl doch nicht gedacht. Er überlegte, wie er Lucy die ganze Sache beibringen sollte und beschloss, auch ihr die Wahrheit verheimlichen zu müssen und das eigens kreiierte, offizielle Selbstmord-Narrativ zu bedienen.
Columbologe
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